Kinderarbeit gehört in Südostasien zum Alltag. Gerade haben schwedische Journalisten aufgedeckt, dass auch H&M 14-Jährige für sich arbeiten lässt. Die indische Organisation Udayan Care setzt sich für die Rechte der Kinder ein – und sieht auch europäische Manager in der Verantwortung.

Ein junger Müllsammler auf einem Markt in Delhi

Ein junger Müllsammler auf einem Markt in Delhi

Der Junge ist vielleicht acht oder neun Jahre alt. Er ist unnatürlich dünn, seine Bewegungen sind kraftlos wie die eines alten Mannes. Der Müllsack, den er schleppt, ist so groß, dass er darunter fast verschwindet– und tatsächlich scheint der junge Müllsammler unsichtbar zu sein für die Passanten, die auf dem gut besuchten Markt ihre Einkäufe tätigen. Sie übersehen ihn schlichtweg, genau wie den Jungen, der an einem Fruchtstand mit gesenktem Kopf stundenlang Orangen schält. Es scheint niemanden zu stören, dass das kleine Mädchen, das am Straßenrand gegrillte Maiskolben verkauft, nicht älter als zehn Jahre sein kann. Kinderarbeit ist in Indien allgegenwärtig, und doch bleibt sie unsichtbar – vielleicht, weil kaum jemand genauer hinschauen will.

Nicht so die Organisation Udayan Care, die sich für die Rechte von Kindern in Indien einsetzt und im Norden des Landes ein Dutzend Kinderheime betreibt. „Offiziell heißt es, dass 12 Millionen Kinder hierzulande arbeiten. In Wirklichkeit sind es aber sicher vier- oder fünfmal so viele. Und Kinderarbeit bezieht sich hier nicht auf Schauspielern und Modeln für Werbungen, sondern auf schädliche Tätigkeiten: Arbeit in einsturzgefährdeten Steinbrüchen, in Feuerwerksfabriken, Teppichknüpfereien und in Textilfabriken“, sagt Rahul Raja Sharma, Manager der Nichtregierungsorganisation. Gerade für letztgenannte Form der Kinderarbeit geraten auch europäische Firmen immer wieder unter Kritik, zuletzt H&M, für das in Myanmar 14-jährige Mädchen bis zu 12 Stunden täglich in einer Textilfabrik arbeiteten.

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Ein Junge, der an einem Fruchtsaftstand Orangen schält.

Vor Kurzem hat das indische Parlament eine Gesetzesänderung gebilligt, die 15- bis 18-Jährigen das Ausführen gefährlicher Tätigkeiten und Unter-14-Jährigen das Arbeiten allgemein verbietet, allerdings mit der Ausnahme von Tätigkeiten in „Familienunternehmen“. Der Gedanke dahinter ist nachvollziehbar: Im ländlichen Indien, wo die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung von der Landwirtschaft lebt, ist die saisonale Mitarbeit von Kindern unverzichtbar, um die Ernte zu sichern. Ein Verbot dessen würde die arme Bevölkerung schwer treffen. Aber für Sharma ist das Gesetz nicht stark genug: „Ist es wirklich gerechtfertigt, Kinder bis in die Nacht hinein arbeiten zu lassen, während Gleichaltrige sich ausruhen, spielen oder lernen? Auch das ist eine Form von Ausbeutung. Es sollte unser Ziel sein, sämtliche Kinderarbeit abzuschaffen. Das neue Gesetz lässt ein Schlupfloch zu, das Kinderarbeit in fast jedem Sektor selbst für die Jüngsten erlaubt.“

Dabei besteht das eigentliche Problem gar nicht darin, neue Gesetze zu verabschieden, sondern vielmehr darin, die bestehenden durchzusetzen. In Indien besteht in eigentlich auf jedem Gebiet eine riesige Lücke zwischen theoretisch geltenden Gesetzen und ihrer praktischen Umsetzung, und besonders betroffen sind immer die Schutzbedürftigsten. Was dagegen getan werden kann? „Zuerst müssen alle Bundesstaaten in Indien und die Zentralregierung ihre Gesetze vereinheitlichen und an die Richtlinien der UNHCR zu Kinderrechten anpassen, denen Indien sich verpflichtet hat. Die aktuell geltenden Richtlinien widersprechen sich teilweise gegenseitig. Wenn wir einheitliche Gesetze haben, müssen diese mit aller Kraft von den Beteiligten umgesetzt werden.“

Sharma sieht unter den „Beteiligten“ eindeutig auch europäische Unternehmen in der Pflicht. „Ein Unternehmen muss frei von Kinderarbeit sein, auf jedem Level. Wer Handel mit Ländern betreiben will, in denen Kinderarbeit vorkommt, muss auch bereit sein, die Verantwortung dafür zu übernehmen, sie aus der eigenen Lieferkette herauszuhalten.“ Wird Kinderarbeit in einem Unternehmen aufgedeckt und unterbunden, dann ist es wichtig, sich auch darum zu kümmern, dass die Kinder danach eine Perspektive außerhalb der Arbeit bekommen. „Sie müssen mindestens eine Entschädigung bekommen, noch besser aber in ein vom Unternehmen finanziertes Bildungsprogramm aufgenommen werden. Ansonsten werden die Kinder morgen in der nächsten Firma anfangen.“

Bisher bleibt es von Seiten der Firmen leider zumeist bei Lippenbekenntnissen. Zwar ist die Fairtrade-Bewegung seit Längerem im Aufschwung, ihr Anteil am Gesamthandel jedoch verschwindend gering. Anders als in der populären Bio-Bewegung gibt es kein einheitliches Siegel, auf das Verbraucher vertrauen können.

Kaum eine Firma macht sich die Mühe, die Lieferkette wirklich zu kontrollieren, stattdessen werden gern CSR-Projekte aufgelegt, um den Anschein von sozialer Verantwortung zu erwecken. Dabei ist ein verantwortungsvolles Agieren  möglich: Das zeigt das Beispiel hessnatur, eine vergleichsweise kleine Firma mit einem Jahresumsatz von 70 Millionen Euro, die ökologisch und sozial einwandfreie Standards in ihrer Textilproduktion einhält. „Wir kennen die Quelle jeder Faser, können belegen, dass wir faire Löhne zahlen und dass wir die ökologische Belastung in der Produktion möglichst geringhalten.“, sagt Geschäftsführer Vivek Batra im Interview mit der Berliner Zeitung. „Sie können nicht von heute auf morgen Transparenz in das Geschäft bringen. […] Auch bei uns war das ein Prozess. Wir haben jetzt 40 Jahre Erfahrung, überschauen die ganze Komplexität. Wir kennen die Lieferketten und die Partner und wissen genau, unter welchen Bedingungen produziert wird.“

Es ist klar, dass sich am Schicksal der Kinderarbeiter in Indien nichts ändern wird, wenn internationale Unternehmen keine Verantwortung übernehmen. Das erfordert allerdings die Bereitschaft, wirklich Veränderungen vorzunehmen, die eigene Komfortzone zu verlassen, und die unsichtbaren Kinder am Beginn der Produktionskette wahrzunehmen.

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