Verfasser/in der Frage

13.08.2019 15:47:33

Herr Dr. Grassmann, Sie prangern in Ihrem neuen Buch das vorherrschende marktwirtschaftliche System an, das Sie selbst viele Jahre aktiv und maßgeblich als hochrangiger Manager mitgestaltet haben. Wie wird man vom Saulus zum Paulus?

13.08.2019 15:48:57

Aus langjähriger Berufserfahrung kenne ich die Grenzen freiwilliger Beschränkung in der Marktwirtschaft. Sie braucht auch klare politische Vorgaben, einen starken Staat. Den vermisse ich. Habe bereits in meinem ersten Buch vor über zehn Jahren vorhergesagt, dass diese von der Industrie stark beeinflusste repräsentative Demokratie nicht in der Lage sein wird, den Klimawandel zu begegnen und so kam es. Ja, ich bin härter geworden gegenüber fehlender Moral in der Wirtschaft, aber auch gegenüber fehlender Durchsetzungskraft politischer Notwendigkeiten.

13.08.2019 16:03:01

Was ist aus Ihrer Sicht das drängendste Problem, das es – bezogen auf eine ungezügelte Wirtschaft – zu lösen gilt?

13.08.2019 16:28:58

Das ist der Klimawandel. Die Kippelemente des Klimas sind eine massive Gefährdung unserer Zivilisation und dennoch kaum bekannt, geschweige denn, in ihrer zerstörenden Gefahr verstanden. Ich empfehle jedem Manager, über diese Kippelemente nachzulesen, wenigstens in Wikipedia. Das ethische Versagen der Marktwirtschaft ist hier besonders hässlich. Denn statt Akzeptanz und Innovation hat die Öl- und Automobil-Industrie früh Zweifel am wissenschaftlichen Konsens geschürt und den Handlungswillen der Politik untergraben – und damit auch George Bush jun. zur Präsidentschaft verholfen. Damit begann eine Abwärtsspirale unserer Zivilisation.

13.08.2019 16:29:45

Sie plädieren für eine Systemänderung statt auf freiwillige Selbsteinsicht der Bürger.

13.08.2019 16:30:48

Persönliches Vorbild ist gut, aber das reicht nicht. Das haben die letzten Jahrzehnte bewiesen. Wir brauchen eine Systemänderung hin zu stärkerer Marktregelung. Ich fordere, wieder Selbstregulierung der Wirtschaft einzufordern. Früher hatten Handwerkerzünfte und die Hanse ihre Regeln, ihren Kodex und das Gebot, nur als „ehrbarer Kaufmann“ aktiv zu sein, auch international. Solche „Selbstverpflichtung“, sektorspezifisch, ist schon lange eine Forderung der OECD und der EU-Kommission, zuletzt in ihrer CSR-Strategie. Aber die Wirtschaftsverbände waren dagegen und die Politik gab nach – bisher. Konsequent von Selbstverpflichtungen begleitete Gesetzgebung führt zu einer faireren Marktwirtschaft, mit zwangsläufig weniger „Freiheiten“.

13.08.2019 16:31:16

Wie kann dieser Systemwechsel konkret in einer global vernetzen Welt aussehen?

13.08.2019 16:32:58

Das heißt, dass die Wirtschaftssektoren Regeln erarbeiten müssen – national und teils auch europaweit – mit Beteiligung der Zivilgesellschaft und der Wissenschaft. Beides muss mit einfließen. Das gibt mehr Problemnähe, aber auch mehr Praxisnähe. Selbstverpflichtungen sind weichere Vorgaben, die nicht ein Gericht einklagt, sondern das wachsame Auge der Zivilgesellschaft und der Medien. Oft wird es begleitet sein von definierten Gütezeichen wie „klimaneutral“ oder „klimaeffizienz“, die wir dann auch für Importe fordern müssen. Die EU ist einer der größten Märkte, sie kann fordern – und klare Kennzeichnungen werden auch in anderen Ländern Nachahmer finden. Die sind auch nicht blind gegenüber den großen Problemen ungeregelter Marktwirtschaft.

13.08.2019 16:33:29

Was ist für Sie der Unterschied zwischen Ethik und Moral in der Wirtschaft und in der Politik?

13.08.2019 16:34:11

Ethik gibt die übergeordneten Grundregeln, aber im praktischen Leben geht es um „Moral“, heute insbesondere um die Sozialverantwortung des Unternehmers. Als man Altbundeskanzler Helmut Schmidt – einem Hamburger – CSR erklärte, sagte er trocken „Jetzt versteh ich, wir nannten das Anstand“. Ehrbarkeit klang ihm wohl zu altmodisch. Ich spreche gern auch von Fairness. Faire Marktwirtschaft – im Unterschied zur freien Marktwirtschaft, die es ja sowieso nicht gibt. Unendlich viel wird geregelt, nur die Schwerpunkte stimmen nicht.

13.08.2019 16:34:34

Wodurch glauben Sie lernen wir mehr: Durch Erfolge oder durch Misserfolge?

13.08.2019 16:35:12

Durch beides.

13.08.2019 16:35:36

Komplexitätsreduktion birgt mit Simplifizierung die Gefahr der Selbsttäuschung. Wie wirken Sie Selbsttäuschungen und Denkfehlern entgegen?

13.08.2019 16:36:17

„Management of Complexity“ ist heute täglich Brot bei gehobenen Aufgaben. Bei gutem Intellekt sehe ich keine Gefahr der Selbsttäuschung.

13.08.2019 16:36:38

Was raten Sie angehenden jungen Managern: Wofür sollen sie ihre Karriere opfern oder auch nicht opfern?

13.08.2019 16:37:22

Es geht nicht darum, die Karriere zu opfern. Es geht darum, ehrbares Erwerbsstreben und Gier zu unterscheiden und sich selbst zu disziplinieren, wenn die große, aber moralisch fragwürdige Versuchung kommt. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, meine Funktionen in der Medizintechnik aufzugeben, deren Produkte Millionen von Patienten geholfen haben, obwohl auch die Medizintechnik in manchen Ländern korrupt war und teils noch ist. Aber wo ich persönlich zu entscheiden hatte, habe ich solche Aufträge abgelehnt. Die wurden dann meist von einer der japanischen Firmen geliefert.

13.08.2019 16:38:05

Was würden Sie, rückblickend auf Ihre Karriere in der Wirtschaft und mit dem Wissen von heute, anders machen?

13.08.2019 16:42:32

Ich hatte Riesenglück und bin dafür dankbar. Meine kritische Haltung zu den Schwächen der Marktwirtschaft hat sich über die Jahre verfestigt, meine Meinung zu stärkeren Regelungen auch. Mein Fehler war, dass ich nach meiner Pensionierung noch etliche Aufsichtsrats-Mandate angenommen habe, statt mich auf die wirtschaftsethischen Themen und die Beratung der Politik zu konzentrieren. Und privat war mein größter Fehler, dass ich den Rat des früheren AR-Chefs von Siemens Dr. Franz nicht beachtet habe: „Wer nach Steuern steuert, steuert falsch.“ Die Verlockungen der enormen Sonderabschreibungen nach der Wiedervereinigung waren für viele zu groß. Auch ich habe da viel Geld verloren.

13.08.2019 16:42:58

Welcher Ihrer beruflichen Entscheidungen bereuen Sie am meisten?

13.08.2019 16:43:42

Na ja, ich habe auch Fehler gemacht. Aber die guten Entscheidungen haben wohl überwiegt. Die Entwicklung der Siemens Medizintechnik und von Carl Zeiss bestätigen das. Aber ich habe zu spät begonnen, offensiv für den notwendigen „grünen“ Wandel in unserer Gesellschaft zu kämpfen, ein Ziel, das sich nicht auf eine Partei bezieht, sondern die gesamte politische Arbeit umfassen muss.

Adressat/in der Frage

Peter Grassmann

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