Verfasser/in der Frage

29.10.2015 00:33:06

Lieber Herr Schirmer,

wir haben uns im Vorfelde zu diesem Online-Interview verabredet – Frage sind nicht abgesprochen nur das Thema ist gesetzt: In den kommenden Wochen werden wir mit Managern und Experten darüber sprechen, was eine „NEXT ECONOMY“ sein kann, welche Beispiele es schon gibt und welche persönlichen Erfahrungen und Perspektiven es dazu gibt.

Warum wir mit Ihnen diese Interviewreihe beginnen wollen? Sie haben sich damals als einer der ersten Manager auf unserer Plattform sehr unmittelbar und sehr offen auf einen Dialog eingelassen. Ist das schon eine Eigenschaft der Next Economy, dass Führungskräfte die Kommunikation wieder stärker selbst in die Hand nehmen und nicht den Pressesprecher bzw die Kommunikationsabteilung antworten lassen?

30.10.2015 21:58:13

Eine spannende Frage, an der ich mich gerne aus meiner persönlichen Sicht versuchen möchte:
Mir ist zu Beginn immer wichtig, die Begriffe zu klären, um eine gemeinsam Basis für den Austausch zu finden (was in vielen Bereichen leider vernachlässigt wird wodurch die Kommunikation stark erschwert wird).

Wikipedia übersetzt den Begriff mit "Wirtschaft" – und dem Verständnis eines Wirt’s also Gastgebers – ursprünglich ging es also darum der Gesellschaft einen Mehrwert zu bieten und damit ein Auskommen zu verdienen.

Marx / Engels sprechen schon früh von „entfremdeter Arbeit“ als Ergebnis der Arbeitsteilung und dem Verlust des Blicks auf das Ganze. Charly Chaplin inszeniert das beeindruckend hier: www.youtube.com/watch?v=DfGs2Y5WJ14 bei Fabrikarbeitern – aber vielleicht ist das in vielen Bereichen heute auch auf Büroarbeitsplätze gefühlt recht ähnlich.
In den vergangenen Jahren haben sich leider viele Techniken, Methoden und Abläufe "verselbständigt". Der Blick auf das Ganze sowie moralische und ethische Grundsätze sind den stetigen Phrasen des „Wachstums“, „Rendite“, Shareholder Value usw. zum Opfer gefallen.
Viele Manager agieren (oder besser reagieren) heute – in bester Überzeugung – mit engem Blick auf direkte Vorgaben, seit Generationen vorgelebtes Verhalten und beugen sich dem „Druck“ dieser scheinbaren Zwänge.
„Next Economy“ könnte also – getriggert durch Globalisierung, Digitalisierung, Automatisierung und vom Bürger mehr und mehr geforderter Individualisierung – eine Rückbesinnung der Wirtschaft auf die eigentliche Daseinsberechtigung (dem Kunden Mehrwert schaffen) sein. Auch eine Weiterentwicklung hin zu einer gemeinsamen Wertebasis, die von hierarchischen Modellen mehr in Netzwerk-/Demokratische Richtung geht, ist zu beobachten. Das mag sehr nach „heiler Welt“ klingen, beobachtet man jedoch die Forderungen einer Generation Y/Z nach Mitbestimmung, Sinn und Work-Life-Balance, die stetig engeren, globalen Beziehungen und die inzwischen wesentlich unmittelbareren Auswirkungen von Fehlverhalten – besteht zumindest eine Hoffnung, das eine mögliche Zukunft eine „Menschlichere“ sein kann.

Bei solch massiven Veränderungen kann es auch deutlich schlimmer werden, wenn sich nicht auf einen Werte-Kanon geeinigt werden kann – dann kämpfen Anwälte und Politiker gegen Waffen.
Ich hoffe das ist nicht zu weit ausgeholt, ich oszilliere aber gerne zwischen dem „Big Picture“ und pragmatischen Details – was ich für eine wichtige Kompetenz für Führungskräfte halte, um eine umsetzbare, ganzheitliche Vision zu erhalten.

Zu Ihrer Frage: Ja, ich bin überzeugt, dass die Welt der Organisationen, wie wir sie kennen (also jede Funktion tut ihren Job und stellt Regeln auf, wer was wann macht), nicht mehr durchzuhalten ist – auch nicht mehr sinnvoll ist.
Sie können heute nur schwerlich (gar nicht?) jemandem den „Mund“ in Sozialen Medien verbieten. Ob das Glassdoor, Kununu oder Facebook / Twitter / WhatsApp / WeChat ist, was man nicht kontrollieren kann, kann man auch nicht verbieten.

31.10.2015 19:10:50

Was hat sich denn aus Ihrer Sicht so grundlegend verändert, dass die alten, in der Industrialisierung begründeten Managementtechnologien heute nicht mehr funktionieren? Und wie funktioniert dann heute die Unternehmenskommunikation nach außen?

31.10.2015 19:18:32

Die Welt ist nicht mehr kompliziert (in der konnte man mit Management Methoden – Berechnen / Steuern / Kontrollieren erfolgreich sein) – sie ist komplex (vernetzt, global, divers, dynamisch, unberechenbar).
In komplizierten Abläufen hilft ein Plan, ein Chef, Rollen und Regeln – während in komplexen Situationen genau diese Dinge die Handlungsmöglichkeiten limitieren. In der für heute typischen komplexen Realität müssen alle Mitarbeiter wissen wofür sie stehen, welcher Vision und auf welcher Werte-Basis gemeinsam gearbeitet wird – damit wird der „Boss“ nicht mehr zum limitierenden Faktor – und im Team können „übersummative“ Ergebnisse entstehen (siehe Prof. Kruse). Damit schließt sich für mich wieder der Kreis – wenn „Leadership“ neu gedacht und gelebt wird, die Menschen wieder verstehen, welchen Beitrag sie im Gesamtsystem leisten (und dahinter stehen können), kann auch das Vertrauen entstehen, dass jeder im Unternehmen zum „Sprecher für das Unternehmen“ wird.
Wohl kann keine Marketing Agentur ein besseres Ergebnis erzielen, als die Gesamtheit der Mitarbeiter, die ihre Überzeugung und den positiven Spirit authentisch nach außen trägt.
Sicher noch ein weiter und langer Weg – lohnt sich aber doch, dafür einzustehen ;-)

31.10.2015 19:29:34

In einem Essay über die Next Society postulierte der Management-Vordenker Peter Drucker: „One of the most important jobs ahead for the top management of the big company of tomorrow, and especially of the multinational, will be to balance the conflicting demands on business being made by the need for both short-term and long-term results, and by the corporation’s various constituencies: customers, shareholders (especially institutional investors and pension funds), knowledge employees and communities.“ Und er leitete daraus zwei zentrale Fragen ab, die es seiner Ansicht nach zu beantworten gilt: „…what can and should managements do now to be ready for the next society? And what other big changes may lie ahead of which we are as yet unaware?“ [Quelle: Drucker, 2001, http://www.economist.com/node/770819].

Das prophezeite Drucker vor 14 Jahren. Was würden Sie ihm aus dem Jahr 2015 berichten, – quasi ZURÜCK AUS DER ZUKUNFT ;) – wie sich Management in der Next Economy nun tatsächlich verändert hat? Welche Art von Veränderungen können Sie als „Manager Digital Transformation & Change“ bei Continental schon ganz konkret beobachten?

01.11.2015 08:17:04

Ich halte "lernen" für eine der wichtigsten Aufgaben unserer Zeit – getrieben von einer #NeuGier, die wir wieder von unseren Kindern lernen müssen. Daher möchte ich diese Frage nicht gleich beantworten, sondern werde vorab folgendes "Hörbuch" (14 Stunden) als Grundlage hören. Es scheint eine zur Frage geeignete Einführung zu sein – um das dann mit meinen Erfahrungen zu einer Antwort zu entwicklen: https://itunes.apple.com/de/audiobook/was-ist-management-das-beste/id378413358 – vielleicht möchte mich jemand auf dieser Reise begleiten ;-)

20.11.2015 00:04:59

Lieber H. Drucker,

[…] 2001 prophezeien Sie […] „The next society will be a knowledge society.“ – auf vielen [heutigen] Konferenzen hört man genau das – kombiniert mit Prognosen, dass bis 2020 bis zu 80% der Wertschöpfung nicht mehr mit Produkten erreicht wird.

Ich würde hier noch einen anderen Aspekt einbringen, da mir „Wissensarbeit“ zu einseitig ist. Transparenz, Austausch, eine neue Art des sozialen – kontinuierlichen Lernens (das Sie ja vorausgesagt haben) ermöglicht es schon heute im „Co-Working-Modus“ fachübergreifende und vor allem neue Lösungen zu erarbeiten. Gefühlt haben wir bis von ca. 8 Jahren stetig bestehendes verbessert – heute, getrieben durch die vielen Möglichkeiten der transparenten und scheinbar grenzenlosen Zusammenarbeit, sind es die direkten Kombinationen von Fachgebieten, die uns Innovationen bringen: Biologie mit Elektrotechnik, Hardware & Software, Natur und Geisteswissenschaft fangen an, gemeinsam begeisternde neue Lösungen zu entwickeln.

Die große Herausforderung liegt darin, mit den dafür notwendigen medialen Kompetenzen die Gesellschaft nicht zu spalten. Wie Sie richtig schreiben, könnte jeder alles lernen heute – eigentlich sind jedoch begleitete Bildungskonzepte notwendig, die dafür die Basis schaffen (Diziplin, Fähigkeit des Denkens und Verknüpfens). Zudem fehlt vielerorts noch die Wertschätzung von Autodidakten.

Mich persönlich freut besonders, dass unsere Personalvorständin hier klare Weichen stellt. Der Lebenslauf verliert an Bedeutung – „Best Fit“ ist im Fokus. Das bedeutet, dass für eine Aufgabe nicht mehr zwangsläufig das richtige Studium erforderlich ist, sondern persönliches Interesse und Erfahrung. Damit wird „wollen und können“ wichtiger als Scheine!

Was mich besonders umtreibt, ist die von Ihnen beschriebene Kernaufgabe des Management „Lernen“ – das heute über diverse Formate nicht mehr nur in Klassenräumen statt findet. Leider haben viele Manager noch nicht das notwendige Vertrauen in Ihre Mitarbeiter, das diese sich wirklich weiterbilden wollen. Christian Kuhna (Adidas) hat das letztens so treffen mit „legalize learning“ bezeichnet, und meint damit neben Bereitstellung der Ressourcen auch den freien Zugang zu YouTube und anderen Kanälen, die hervorragend Kompetenzaufbau begleiten können.

Next Economy hat für mich jedoch auch neue Facetten, die sich langsam ausbilden. In einer Zeit, in der Computer, die Leistungsfähigkeit unserer Gehirne (Geschwindigkeit, Rechenleistung, Fehlerfreiheit) schon übersteigt, liegt die Zukunft im Fokus auf der menschlichen Besonderheit kreativ zu sein und kulturschaffend zu wirken. Kunst und Musik sind solche Ergebnisse. Wenn unsere Manager (wir nennen Sie heute – wenn Sie über diese Fähigkeiten verfügen – Leader) in der Lage sind ihr teilweise freiwilliges Team wie ein Jazz-Orchester zu führen, entstehen „übersummative Ergebnisse“ (vergleich Prof. Kruse „Redefinition von Leadership“ https://youtu.be/tn4Ps6OsCc8 ). Es entsteht agile Zusammenarbeit, die den Mitarbeiter mit seinen besonderen Fähigkeiten in den Mittelpunkt stellt. So kann dynamisch auf Veränderungen im Markt reagiert, aber dennoch ein übergeordnetes Ziel, diszipliniert aber mit großer Passion erreicht werden. Solche Leader haben dann „Follower“ und Teams können beliebig groß sein und auch den Kunden beinhalten.

Wir sehen bei Continental bereits immer mehr Manager, die nicht nur physisch „Wände einreißen“ um neue offene Arbeitsformen zu ermöglichen, sondern auch die Wände in den Köpfen z.B. durch agile Methoden und moderne Technologien, aber auch gezielt durch unsere Kulturentwicklungsinitiativen. Es wird nach neuen Organisationsformen gesucht und das Verständnis für Werte-basiertes Führen (Vertrauen, Verbundenheit, Freiheit, Gewinnermentalität) wirkt sich immer mehr aus. Es ist ein Wandel, der – wenn ich die Prognosen von Ihnen betrachte – wohl nicht so schnell geht, bis er ALLE erreicht – aber schon sehr deutliche Formen annimmt. Die Liste der „darwinschen Opfer“, welche sich nicht rechtzeitig anpassen konnten, wird auch bei ehemaligen Weltmarkführern immer länger.

Ich danke Ihnen für die ausgezeichnete Arbeit (wenn ich mir diese Anmaßung eines Urteils erlauben darf) – es ist eine wunderbare Basis. Darauf können wir heute Aufbauen und neue Methoden entwickeln, die Ihren vorausgesagten Veränderungen Rechnung tragen. Die Herausforderung ist, Ihre Werkzeuge für „planbare komplizierte Organisationen“ jetzt weiter zu entwickeln, damit Sie für unsere „komplexe nicht vorhersagbare New Economy“ funktionieren.

Mit besten Grüßen aus der Gegenwart
Harald Schirmer

20.11.2015 00:32:38

Eine brilliante Idee – ein WOL-Interview. Herr Drucker wäre sicher beeindruckt zu sehen, wie Lernen und Wissen heute praktiziert werden kann. Ich bin schon jetzt gespannt auf Ihr Ergebnis und wünsche viel Spaß und gute Erkenntnisse!

Adressat/in der Frage

Harald Schirmer

Continental AG
Corporate HRD Change Management / Organizational Development

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