Julia Ebert (managerfragen.org) im Gespräch mit Dr. Alexandra Hildebrandt
Erstmals nach der Konzerninsolvenz von Arcandor (KarstadtQuelle) äußert sich die damalige Leiterin Gesellschaftspolitik und heutige DFB-Nachhaltigkeitsbeauftragte in der Kommission Nachhaltigkeit ausführlich über ihre Arbeit in Krisenzeiten. Die Bereitschaft, sich detailliert unseren Fragen zu widmen, hat für sie auch mit der inspirierenden Lektüre des Buches „Macht. Geschichten von Erfolg und Scheitern“ (Fischer Verlag, 2013) von Katja Kraus zu tun, das nicht zuletzt der Auslöser war, sich hier in dieser Form zu öffnen.
Frau Hildebrandt, Sie haben bis zur Konzerninsolvenz die Stabsstelle Gesellschaftspolitik und Nachhaltigkeit sowie deren Kommunikation bei der Arcandor AG (KarstadtQuelle) geleitet. Der Untergang des Unternehmens ist eine der größten Wirtschaftspleiten in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Seit 2010 sind Sie DFB-Nachhaltigkeitsbeauftragte in der Kommission Nachhaltigkeit. Was bedeutet für Sie persönlich Nachhaltigkeit, und wie hängt dies mit Ihren Erfahrungen in der Krisenzeit zusammen?
Das ursprüngliche Wesen dieses Begriffs, seine tiefe Symbolik und Tragweite, offenbarten sich mir erst in dieser Krisenzeit, die mit dem Verlust äußerer Stabilitätsfaktoren verbunden war. Auch wenn mein bis dahin vertrauter Lebensrahmen durch die Konzerninsolvenz aus den Fugen geriet, spürte ich in der Nullpunktsituation wie so oft Veränderungssituationen eine innere Kraft und Lebendigkeit, die mich getragen und gehalten hat. Mein Wesenskern blieb also von den äußeren Ereignissen unberührt. Mit ihm verbinde ich auch eine Art Urvertrauen, das einfach nur da ist und nicht erklärt werden kann. Diese Erfahrung fand ich später im 1807 von Joachim Heinrich Campe herausgegebenen Wörterbuch der deutschen Sprache bestätigt: „Nachhalt“ ist das, „woran man sich hält, wenn alles andere nicht mehr hält“. Dieser Satz hat für mich etwas ungemein Tröstendes und Zeitloses und zeigt zugleich, dass die beiden Krisenbegriffe Nachhaltigkeit und Resilienz zusammen gehören.
Welche persönlichen Gefühle verbinden Sie im Nachhinein mit dem Unternehmen Arcandor?
Alles ist endlich. Wenn ich heute oft davon spreche, dass ich die Dinge gern vom Ende betrachte, so meine ich dies nicht ergebnisbezogen oder bewertend, sondern in Bezug auf Sinn und Lebensqualität. Der Fokus ist dabei auf das gerichtet, was persönlich Relevanz hat und mit Sinngebung verbunden ist. Im Konzern, gerade in den späten Umbruchszeiten, in der sich viele Lücken ergaben, die gefüllt werden konnten, war das teilweise möglich. Nicht im Rahmen der üblichen Managementarbeit beim Geschäfts- und Nachhaltigkeitsbericht, der Vorbereitung und Begleitung der Hauptversammlung, Aktionärsthemen etc., aber wohl bei der Kommunikation von Themen, die Teilen des Systems, auch wenn es angeschlagen war, immer wieder neue Energie zugeführt hat. Es entstanden viele Publikationen von und mit Unternehmern und Managern, die auf den großen Bedarf an Kreativen in der Wirtschaft aufmerksam machten und sich mit Innovation im Sinne von „Erneuerung“ beschäftigten. Keines dieser Projekte und Versuche blieb ohne Folgen, und wenn es am Ende nur um ein verändertes Bewusstsein ging. Ich verbinde also nicht nur Themen mit Arcandor, die von den Medien ausgiebig kommentiert wurden, sondern auch Gestaltungskraft, Pragmatismus, Entschlossenheit, Mut, Veränderungsbereitschaft, Inspiration und Kreativität, aber auch innere Unruhe. Denn ich wusste, dass ich in den ständigen Veränderungssituationen nicht viel Zeit hatte. Deshalb war das Postulat der Stunde: „Nicht lange reden, machen!“
Fühlten Sie sich in solchen Momenten eher als Unternehmerin denn als Managerin?
Ich war eine unternehmende Managerin, denn häufig fehlten klare Vorgaben, die ein Manager für die Ausübung seiner Funktion braucht. Die Zeit war häufig aus den Fugen, und so konnte ich in bestimmten Situationen nur Uhrmacher sein statt Zeitansager, die Jim Collins mit „Managern“ verbindet, weil sie an der Spitze eines hoch komplexen Systems stehen, dessen Wesen und funktionieren sie in kurzer Zeit oft gar nicht kennen können. Ich habe mich immer als beides gefühlt: halb Unternehmer, halb Manager.
Fühlten Sie sich als Grenzgängerin?
Ja, noch immer, ich nehme den Begriff für mich gern in Anspruch, weil ich mich an den Rändern besonders wohl fühle – persönliche und gesellschaftliche Entwicklungen geschehen meistens an Rändern. Von hier aus war es für mich zu Konzernzeiten auch einfacher, flache, nach innen und außen stark vernetzte Strukturen zu entwickeln und die eigene Organisation immer wieder neu an sich ändernde Rahmenbedingungen anpassen.
Wie konnten Sie Mitarbeiter, Geschäfts- und Kooperationspartner, NGOs, Politik- und Medienvertreter in schwierigen Zeiten von der Sinnhaftigkeit Ihrer Arbeit überzeugen, da doch das Unternehmen selbst seine Glaubwürdigkeit und seinen Sinn verloren hatte?
Ich musste niemanden überzeugen, weil sich die Richtigen finden, bleiben oder neu hinzukommen. Sie erkennen sich an der Art ihres Denkens und Tuns unabhängig von guten oder schwierigen Zeiten und finden gemeinsam auch Lösungen. Wer es ernst mit einem solchen Thema meint, bleibt miteinander verbunden – auf die anderen, die nur wegen einer Kostenstelle oder Funktion die Nähe suchen, kann man getrost verzichten.
Wie empfanden Sie persönlich den Verlust Ihrer Funktion?
Es mag seltsam anmuten, aber ich fragte mich oft, warum mir dieser „Verlust“ nicht wehgetan hat. Um etwas zu verlieren, muss man es erst einmal besitzen. Es war für mich aber immer ein geliehenes Amt, über das ich mich im Kern nicht definiert habe. Und so stellte ich mir die Frage auch nicht, was ich ohne diese Funktion bin, obwohl es kein äußeres Sicherheitsnetz gab, das mich auffangen konnte. Möglicherweise hatte es auch damit zu tun, dass ich einer öffentlichen Bewertung nicht so massiv ausgesetzt war wie die Arcandor-Vorstände. Die innere Stabilität hat aber auch mit der Frage „Warum“ zu tun. Simon Sinek stellt sie in seinem Buch „Start With Why: How Great Leaders Inspire Everyone to Take Action“ in den Mittelpunkt: „Warum man tut, was man tut?“ Daraus ergibt sich der Sinn, den man in einer Sache sieht. Nicht was wir tun, sondern warum wir etwas tun, ist entscheidend für die Nachhaltigkeit unserer Handlung und ebenfalls dafür, wie wir von außen wahrgenommen werden. Alles, was ich für das Unternehmen tat, habe ich immer auch zu meiner eigenen Sache gemacht und den Dingen eine Handschrift gegeben. So haben zum Beispiel viele damals initiierte Projekte, die nicht zum unmittelbaren Kerngeschäft von Arcandor gehörten, aber durchaus mit seiner Kultur, die Konzerninsolvenz überlebt. Die Initiative „Verantwortung tragen“, die heute zur DFB-Stiftung Egidius Braun gehört und Nachhaltigkeitsprojekte für Kinder fördert, aber auch Buchpublikationen wie „Die Sprache von Mode und Design“ oder „Die Andersmacher“.
Sie konnten den Nachhaltigkeitsbereich bei Arcandor damals noch halten, auch als die Vorstände schon gehen mussten. Können Sie Ihre Funktion während der Insolvenz beschreiben?
Gehalten habe ich den Bereich nicht, sondern die Situation ausgehalten. Von einer „Funktion“ konnte also keine Rede mehr sein, denn es gab keine geregelten Geschäftsabläufe mehr, auf die ich Einfluss nehmen konnte, zumal Vorstände und Mitarbeiter nicht mehr dabei waren. Es war plötzlich auch nicht mehr wichtig, ob es einen Nachhaltigkeitsbericht gab oder nicht, ob das Unternehmen Stakeholdergespräche führte, fair gehandelte Waren anbot oder im Global Compact war. Es war ein Abschied auf Raten, verbunden mit einer Stille, die uns Verbliebene auf uns selbst reduzierte, aber bei mir auch enorme Kräfte freisetzten, weil ich mit dem Thema Nachhaltigkeit weitermachen wollte. Trotzdem.
Was hat Ihre Arbeit bis dahin ausgemacht?
Handlungs- und Gestaltungsspielraum, planerische Phantasie, Mut zum Querhandeln und Augenmaß für das, was ich im Rahmen meiner Möglichkeiten bewirken konnte. Aber auch die Erkenntnis, dass Nachhaltigkeit nicht in einem eindimensional hierarchischen Kontext von Oben herab funktioniert. Dazu brauchte es ein Höchstmaß an Sensibilität, Improvisationstalent, ein Gespür für den rechten Augenblick und den Wechsel von Anpassung und Widerstand, der oft der einzige Weg war, um Dinge zu bewegen. Mir ist mein eigener Grenzgang und die „soziale Gewitztheit“ erst später bewusst geworden, als ich mich mit der Biographie von Sepp Herberger beschäftigte und hier auf mir sehr vertraute Muster stieß: Seine pragmatische Fähigkeit, sich instinktiv neuen Gegebenheiten anzupassen, auch wenn sie ihm nicht behagten, waren mir sehr nah. Auch, dass er mit jedem anders sprach und rechtzeitig Signale und Störungen registrierte. Im Sinne der Nachhaltigkeit sorgte er vor, dachte nach und verlor niemals seine Ziele aus den Augen. Auch sein Misstrauen dem flüchtigen Glück gegenüber, dem er ein Höchstmaß an Planung und Taktik entgegensetzte, ist mir vertraut.
Deutschland braucht mehr Unternehmer, so eine Forderung der Politik. Auch Universitäten fördern Unternehmertum mit diversen Initiativen. Aber an der Spitze der großen DAX-Konzerne stehen die Manager. Was unterscheidet beide?
Für Joseph Schumpeter ist der Unternehmer vor allem einer, der es schafft, neue Kombinationen zu entdecken, zum Beispiel die Entwicklung neuer Güter oder die Erschließung neuer Absatzmärkte. Er glaubt an seine Idee, die ihm wichtiger ist, als die Fähigkeit, an ihr festzuhalten. Er tut etwas – selbst auf die Gefahr des Scheiterns hin – und geht Wege, die vor ihm noch niemand gegangen ist. Das unterscheidet den kreativen Unternehmer vom Manager, der darauf achtet, dass alles seinen vorgeschriebenen Weg geht. Schon der englische Begriff „to manage“ heißt so viel wie „an der Hand führen“. Allerdings wird man dem Thema nicht gerecht, wenn man den Unternehmer nur mit einer Vision in Verbindung bringt und den Manager mit deren Umsetzung und Steuerung. Die Übergänge sind oft fließend, und am nachhaltigsten ist eine Mischung aus beidem, was sich auch im Fußball zeigt.
Sie plädieren für mehr Unternehmertum in allen gesellschaftlichen Bereichen? Warum?
Weil „managen“ allein nicht reicht. Auf einem zunehmend flexiblen Arbeitsmarkt müssen Beschäftigte immer mehr zu Unternehmern ihrer eigenen Fähigkeiten und Kenntnisse werden. Für Führungskräfte bedeutet die Flexibilisierung von Arbeit neue Anforderungen im verantwortungsvollen Umgang mit den Mitarbeitern. Neben dem Überblick über ein größeres Wissensspektrum wird es vor allem auf die Fähigkeit ankommen, sich auf neue Gegebenheiten schnell einzustellen, um richtig reagieren und Lösungen entwickeln zu können.
Was haben Sie aus den Erfahrungen Ihrer Konzernzeit gelernt?
Dass Märkte selten so perfekt wie im Lehrbuch sind. Deshalb funktioniert Nachhaltigkeitsarbeit auch nicht wie ein mathematisches Modell. Sie muss einer inneren Motivation entspringen.
Ein Jahr vor der Arcandor-Insolvenz gaben Sie das Buch „Die Andersmacher. Unternehmerische Verantwortung jenseits der Business Class“ heraus. Was war der Anlass für dieses Buch, und was hatte es mit dem Konzern zu tun?
Konzernpublikationen werden in der Regel selten mit persönlichem Gewinn gelesen. Es gab in diesem Unternehmen so viele spannende Geschichten hinter den Zahlen im Geschäfts- und Nachhaltigkeitsbericht, die ich gern zeigen wollte. Und das war in einer glaubwürdigen Form nur außerhalb des Unternehmensrahmens möglich. Wer Sinn vermitteln möchte, braucht Aufmerksamkeit, muss aus der Masse herausragen. Das gelingt nur Produkten, die einen handfesten oder auch emotionalen Mehrwert und persönlichen Nutzen bieten. Wir haben Menschen aus Kultur, Politik und Wirtschaft porträtiert, die Grenzen ausloten, die sich nicht für eins, sondern für vieles interessieren und für andere und für sich selbst Verantwortung übernehmen. Und wir fragten uns, was sie antreibt, warum sie die Komfortzone verlassen, um ihr Leben neu zu denken und zu leben. Durch Interviews, Reportagen und Essays sollte ein anderer Zugang zum Thema Nachhaltigkeit und Diversity geschaffen werden. Anhand von Lebensläufen wie denen von Musikmanager Tim Renner beispielsweise oder dem von Claus Hipp, Annette Roeckl sowie Karstadt-, Quelle- oder Mitarbeitern von Thomas Cook. Die Kernaussage des Buches ist, dass unser Handeln unserem Verstehen entsprechen muss, wenn es nachhaltig wirken soll.
In diesem Jahr wird der 200. Geburtstag des Nachhaltigkeitsbegriffs gefeiert: Hans Carl von Carlowitz legte 1713 die Summe seiner theoretischen und praktischen Erfahrungen im Umgang mit der Ressource Holz in dem Folioband Sylvicultura oeconomica oder „Anweisung zur wilden Baumzucht“ vor. Ist das der Ursprungstext der Nachhaltigkeit?
Nein, die Wurzeln reichen viel weiter zurück. Aber Carlowitz‘ Buch ist wichtig, um die Ambivalenz des Begriffes zu verstehen. Es kritisiert das auf kurzfristigen Gewinn ausgerichtete Denken: Ein Kornfeld bringe jährlichen Nutzen, auf das Holz des Waldes müsse man dagegen Jahrzehnte warten, bis es hiebreif sei. Gegen den Raubbau am Wald setzt er die Regel, „dass man mit dem Holz pfleglich umgehe“. Der Begriff „pfleglich“ ist ihm zufolge ein „uralter Holtz-Terminus“, der „in hiesigen Landen gebräuchlich“ sei. Ulrich Grober weist in seinem wunderbaren Buch „Die Geschichte der Nachhaltigkeit“ nach, dass „pfleglich“ der unmittelbare Vorläufer von „nachhaltig“ ist. Schon im Paradies nimmt Gott den Menschen in die Pflicht, der Erde mit Ehrfurcht zu begegnen und schonend mit ihr umzugehen: „Dann legte Gott im Osten, in der Landschaft Eden, einen Garten an. Er ließ aus der Erde alle Arten von Bäumen wachsen. (…) Er übertrug ihm die Aufgabe, den Garten zu pflegen und zu schützen“, heißt es im 1. Buch Mose. Mit diesem Gebot ist in der Bibel ein Urtext von Nachhaltigkeit formuliert.
Warum tun sich so viele Menschen mit dem Begriff der Nachhaltigkeit so schwer? Wie beurteilen Sie diese Entwicklung hin zu einem Trend-Thema, das oftmals mit einer gewissen Unschärfe einhergeht? Wann verliert Nachhaltigkeit an Glaubwürdigkeit?
Die größte Skepsis am Nachhaltigkeitsbegriff entsteht durch seine mittlerweile inflationäre Verwendung, die ihn seiner Glaubwürdigkeit beraubt hat. Tatsächlich entsteht oft der Eindruck, dass Nachhaltigkeit als Leerformel für alles steht. Es braucht persönliche Zugänge zum Begriff und wahre Sätze wie der des deutschen Technik-Pioniers und Unternehmers Werner von Siemens: „Für augenblicklichen Gewinn verkaufe ich die Zukunft nicht“. Dafür brauchte er keine Nachhaltigkeitsindikatoren. Glaubwürdigkeit verliert das Thema, wenn es nicht gelebt und zu Greenwashing wird – das ist an der Art der Kommunikation erkennbar. Was nicht sofort berührt und in Inhalt und Form austauschbar ist, sollte misstrauisch machen.
Der zweite Teil des Interviews mit Dr. Alexandra Hildebrandt erscheint nächste Woche ebenfalls in unserem Blog.