Gerade ein gutes halbes Jahr ist es her, dass Reinhard Sprenger in einem Interview mit der Wirtschaftswoche dem Siemens-Chef Jo Kaeser sein gesellschaftspolitisches Engagement vorwarf. Nach Sprengers Auffassung sind Manager nur Kunden und Kapitalgebern verpflichtet; gesellschaftliche Diskussionen zu führen sei Aufgabe von Politikern und Moral gehöre in die Kirche. Wir haben damals in einem Blogbeitrag dieser Einschätzung widersprochen. Der Management-Berater Sprenger wird sich aktuell vermutlich in seiner Einschätzung bestätigt sehen. Die Diskussion um das Engagement von Siemens beim Bau der weltgrößten Kohlemine in Australien und die öffentlichkeitswirksame Auseinandersetzung mit Fridays for Future hat es vor einigen Tagen bis in die Siemens-Hauptversammlung geschafft.
Die Fridays for Future-Bewegung prangert – aus Umweltschutzgründen zu Recht – den Bau der weltgrößten Kohlemine in Australien an. Der Siemens-Anteil dabei ist marginal; ein Rückzug würde gegebenenfalls. zu Verzögerungen des Baus führen, die Mine jedoch würde trotzdem gebaut und das CO2 über die abgebaute Kohle in die Atmosphäre gelangen. Kaeser hat seine Entscheidung, an dem Projekt festzuhalten, ausführlich begründet und auch die Umweltaktivisten haben ihre Positionen dazu deutlich gemacht. Was wäre in diesem Fall konkret anders, wenn der Siemens-Chef, wie Sprenger fordert, ausschließlich die Positionen der Anteilseigener in seine Überlegungen einbeziehen würde? Gar nichts, zumindest vordergründig; die Entscheidung wurde ja zugunsten von Siemens gefällt. Interessanter könnte es sein, den Kontext des Falles und den Verlauf der Diskussion in den Blick zu nehmen. Kaeser hat nämlich auch gesagt, dass er eine solche Entscheidung nicht wieder treffen würde.
So fand zum einen unter großer öffentlicher Aufmerksamkeit ein Schlagabtausch zwischen Kaeser und den Umweltaktivisten statt. Während die Fridays for Future-Bewegung Null-Toleranz im Umgang mit den Betreibern der Kohlemine und den nachträglichen Ausstieg von Siemens fordert, macht Kaeser vor allem mögliche Konventionalstrafen für diesen Fall geltend, die ein Vielfaches des Auftragsvolumens betragen könnten.
Zum anderen wird dem Siemens-Chef die Verursachung eines Image-Desasters sowie geschäftsschädigendes Verhalten durch seine gesellschaftspolitischen Stellungnahmen, beispielsweise zu Trump oder zur Migrantenrettung im Mittelmehr, vorgeworfen. Man kann die kommunikativen Auftritte des Siemens-Chefs aus Marketingsicht für mehr oder weniger clever halten. Man muss auch nicht seine Meinung teilen oder sein Vorgehen begrüßen. Eines jedoch ist bemerkenswert: Er stellt sich der öffentlichen Diskussion in einer Art und Weise, die für deutsche Konzernchefs sehr ungewöhnlich und neu ist.
Jo Kaeser mischt sich ein und bezieht öffentlich Position. Dabei hat er den Erfolg seines Unternehmens, seine Kunden und hunderttausende Mitarbeitende im Blickfeld. Aber eben auch andere Interessensgruppen. Er verschließt sich weder Gesprächen ums große Ganze noch um Siemens, sondern geht in den kontroversen Austausch, auch öffentlich. Das macht ihn für viele angreifbar: für liberal-konservative Wirtschaftsvertreter oder Sozialpartner, für NGOs, Umweltaktivisten und für die Politik. Vertreter der AfD nennen ihn einen „linken Gesinnungsterroristen“ und eine „Schande für Deutschland“. Es scheint, als setzt sich Kaeser zwischen alle Stühle.
Im August letzten Jahres, einige Wochen nach unserem oben genannten Blogbeitrag, unterzeichneten die CEOs der 200 größten amerikanischen Unternehmen im Rahmen eines Business Roundtable das „Statement on the Purpose of a Corporation“. Dieses Dokument markiert nichts weniger als die gänzliche Abkehr vom Shareholder Value und eine einem klaren Bekenntnis zur Verantwortung für alle gesellschaftlichen und unternehmerisch relevanten Interessensgruppen (Stakeholder). Auch wenn hier Skepsis bezüglich möglicher, bloßer Lippenbekenntnisse angebracht scheint, markiert dies eine deutliche Wende im Selbstverständnis amerikanischer Unternehmenslenker.
In einem Interview mit der ZEIT verdeutlicht Kaeser seine Positionen sowie sein Kommunikations- und Führungsverständnis. Dabei wird deutlich, dass er bereits im Handeln einiges vorweggenommen hat, was amerikanische CEOs neuerdings proklamieren und wirtschaftsliberale Vertreter wie Reinhard Sprenger nicht wahrhaben wollen: Dass Wirtschaft untrennbar eingebettet ist in Gesellschaft und Unternehmenslenker insofern Verantwortung über ihr originäres Unternehmen hinaus wahrnehmen. Das bedeutet eben auch Teilnahme am gesellschaftlichen Diskurs, mit all seinen Facetten.
Kaeser setzt sich vielleicht zwischen alle Stühle; möglicherweise versucht er aber auch, eine aus seiner Sicht bestmögliche Entscheidung unter vielen widersprüchlichen Perspektiven zu finden. Als Siemens-Chef geht es ihm um die Zukunft seines Unternehmens, aber eben auch um die Zukunft der Gesellschaft und um die Umwelt. Diese Verquickung ist im Konkreten leider widersprüchlich und paradox. Ist der Job eines CEO jedoch nicht genau das: die Navigation zwischen den paradoxen Anforderungen der Interessensgruppen im Diskurs um die bestmögliche Lösung? In diesem Selbstverständnis nimmt Kaeser unter deutschen und vielleicht sogar unter amerikanischen Konzernchefs eine Vorreiterrolle ein – nicht aufgrund seiner Entscheidung, die viele Aktivisten als konservativ und profitmaximierend kritisieren, sondern aufgrund seiner Offenheit für Dialog. Er regt damit indirekt zu einer Gedankenreise an und lädt durch seine öffentlichen Auftritte dazu ein: Was würde passieren, wenn alle DAX- und MDAX-CEOs wie Kaeser ihre ambivalente Rolle annehmen und wahrnehmen und dann den Diskurs um die Zukunft von Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt aktiv mitgestalten würden? Nicht auszudenken?