Verfasser/in der Frage

01.07.2013 13:19:31

Herr Professor Oltmanns, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit nehmen, via Managerfragen zu antworten. Sie sind Ökonom und beraten insbesondere den öffentlichen Sektor, daher die erste Frage zur Dynamik Staat/Markt:

Während bis vor 2-3 Dekaden der Staat eher den Markt beherrschte, scheint nun die Marktlogik den Staat zu fesseln. Nach Rousseau wird der Mensch frei geboren und liegt überall in Ketten. Wird das Unternehmen nun frei geboren und der Staat liegt über all in Ketten? Ist da ein Gleichgewicht aus den Fugen geraten? Was müssen wir als Gesellschaft tun, um die Balance wiederherzustellen?

04.07.2013 00:01:49

Lieber Ali Guemuesay,

besten Dank für das Warten. Ich bin mir leider noch immer nicht sicher, ob meine Antwort so klug ist, wie Ihre Frage(n) aber ich versuch’s es mal. Ich verstehe Sie so, dass Sie einen Konflikt zwischen der "Marktlogik" (nach meiner Interpretation: Regulation von individuellem/r Angebot und Nachfrage über Preis, "invisible hand" etc.) und der Staatslogik im Sinne unseres demokratischen Rechtsstaatsverständnisses (Volk als Souverän, Herrschaft des Rechts, Gewaltenteilung etc.) sehen. Sie vermuten, dass in einem Konflikt zwischen der individuellen Nutzenoptimierung und einer Art "gesellschaftlichen Wohlfahrtsfunktion" oder – aus der Perspektive der politische Ökonomie/Soziologie – in der Auseinandersetzung mit den wenigen, ökonomisch Durchsetzungsfähigen die "Mehrheit" mit ihren vielfältigen, weniger fokussierten Interessen zunehmend an Einfluss oder Macht verliert. Ich vermute, Sie sprechen damit einer Mehrheit der Deutschen "aus dem Herzen", Medien und Parteien beschäftigen sich intensiv mit einer "gefühlten" Zunahme der Ungleichheit und verlangen, der Staat müsse den wachsenden Einfluss "der" Wirtschaft begrenzen. Interessanterweise zeigen die Analysen, das etwa die relative Verteilung des Vermögens sich kaum verändert hat: Die reichsten 10 Prozent der Deutschen besitzt heute rund 25 Prozent des Vermögens, die ärmsten 10 Prozent verfügen lediglich über rd. 3 Prozent – und in den 50er Jahren sah es fast genauso aus. Möglicherweise ist der Bezugspunkt auf das Vermögen der Individuen nicht der richtige, um das Verhältnis von Unternehmen und Staat zu diskutieren. Allerdings würde ich hier geltend machen, dass die vergangenen 50-60 Jahre eine erhebliche Ausweitung der Einflüsse der "Mehrheit" auf "die" Unternehmen gebracht haben: Arbeitsschutz, Gleichberechtigung, Umweltschutz und nicht zuletzt und sehr frisch die "Energiewende" sind Beispiele dafür, wie der Staat in die Unternehmenssphäre eingreift. Natürlich: Viele Unternehmen können sich durch Globalisierung nationalen Kontrollen (teilweise) entziehen. Natürlich: Große Unternehmen verfügen über Kontakte und Einfluss. Um so erstaunlicher ist es aber, dass die von mir kurz angedeuteten Veränderungen durchgesetzt werden konnten – häufig gegen den Widerstand der hochbetroffenen, gut organisierten Unternehmen. Mit dem zunehmenden Einfluss Brüssels hat sich eine weitere überstaatliche Instanz einen nicht unwesentlichen Einfluss auf die Wirtschaft gesichert, der die Handlungsspielräume der Unternehmen – ob nun begrüßt oder abgelehnt – einschränkt. Meine Antwort auf Ihre Frage wäre daher wohl eher "Nein". Ich glaube nicht, dass der Staat sich Freiraum von den Unternehmen zurückholen muss. Ob und wieweit die Balance "richtig" ist, wäre wohl Sache des Souveräns. Hier liegt nach meiner Ansicht die Gefahr: Das Erreichte selbstverständlich zu nehmen oder von einer automatischen Balance auszugehen, wäre sicher ein Fehler.

06.07.2013 14:24:38

Lieber Herr Professor Oltmanns, vielen Dank für ihre tiefgreifende Antwort. Zufälligerweise hat gestern Henry Mintzberg hier in Montreal auf einer Konferenz von einem Ungleichgewicht gesprochen und dabei drei Akteure genannt: Staat, Markt & Zivilgesellschaft, wobei, grob formuliert, er konstatierte, dass Unternehmen ihren Einfluss ausgeweitet haben und er sich eine stärkere Zivilgesellschaft wünsche. Vielleicht sollte es daher weniger um eine Schwächung von einem Akteur, sondern um eine Stärkung der anderen Akteure gehen. Ich danke Ihnen für die Antwort!

Meine zweite Frage geht in eine andere Richtung: Ich war selber Unternehmensberater und würde gerne ihre Meinung zu eine möglicherweise sich verändernde Rolle von Unternehmensberatungen hören: Könnte es sein, dass Unternehmensberatungen vermehrt eine Koordinierungsrolle erhalten, um so eine umfassendere Beratung anzubieten? Beratungen würden hierbei als Netzwerk-Architekten auftreten, die ein Ökosystem von Firmen für die Beratung des Kunden abstimmen und koordinieren.

10.07.2013 21:33:55

Lieber Ali Guemuesay,

vielen Dank für den Hinweis auf Mintzberg. Ich kann mir kaum anmaßen, "Mighty Henry" zu kommentieren. Aber die Ausweitung von Macht und Einfluss zu Ungunsten des Einzelnen und der gemeinsamen Schutzmacht Staat ist ja ein etabliertes Muster. Die spannende Frage ist, welche Anhaltspunkte M. für die Verschiebung der Einflusssphären hat. Ich würde etwas halsstarrig behaupten, dass in den vergangenen Jahren faktisch viele wichtige Veränderungen durchgesetzt wurden, die "den" Unternehmen eher Nachteile gebracht haben, von der häufig lächerlich gemachten Bananenverordnung der EU (die am Ende eine langweilige aber verlässliche Qualität für Verbraucher erzielen sollte) bis zum Ausstieg aus der Atomenergie läßt sich eine lange Liste von Veränderungen aufmachen, bei denen die Bürger das Recht auf eine Art verändert haben, von der Unternehmen nicht profitiert haben. Umgekehrt fallen mir wenige solcher Beisiele ein. Aber nun endlich zu Ihrer Frage. Die kann ich ausnahmsweise kurz beantworten, aus meiner Sicht ist die Antwort eindeutig: Ja. Das ist sicher eine der Entwicklungslinien der Beratung, die sich gerade abzeichnen. Es gibt auch andere, etwa eine Verschiebung der Bedeutung vom Industrie-Wissen hin zu "Big Data" etc. aber in Ihrer Analyse stimme ich Ihnen zu. Das ist zwar eine langweilige Antwort – aber eine ehrliche.

11.07.2013 17:11:01

Herr Professor Oltmanns, vielen Dank für ihre Antwort. Mit meiner letzten Frage möchte ich direkt an ihren Punkt zur Bedeutung von Wissen und der Rolle von „Big Data“ anknüpfen; genauer geht es um Bildung.

Im Februar habe ich unserer neuen Minsterin für Bildung & Forschung Frau Wanka meinen Wunsch zur Bildungspolitik via einem Artikel bei Zeit Online übermittelt:

“Ich möchte nicht in einer Gesellschaft leben, dessen Bildungsziel der Bildungsabschluss oder der Bildungstitel ist. Ziel von Bildung sollte eine Art Humboldt’sche Vervollkommnung der Persönlichkeit sein, welche die Gesellschaft nachhaltig prägt. Wir sind Knowmaden und brauchen lebenslange Bildungsabonnements, um kontinuierlich aber zeitlich, örtlich und inhaltlich flexibel lernen und wirken zu können. Denn Bildung von heute ist morgen schon wieder Schnee von gestern. Wir müssen abwägen zwischen gesellschaftlicher Bildungseinheit und individueller Bildungsfreiheit, um so stetigen Wandel zu erlauben und wandelnde Stetigkeit zu erreichen. Liebe Frau Wanka, ich wünsche mir eine Bildungsrenaissance – für eine weise, nachhaltige und wertreiche Bildung.”

Wir vom Think Tank 30 des Club of Rome haben das Buch 7 Tugenden Reloaded verfasst, in dem wir wertorientierte und nachhaltige Lösungen u.a. auch zur Bildungspolitik entwickeln. Glauben Sie auch, dass wir unser Bildungssystem grundlegend verändern (an neue Wirklichkeiten anpassen) müssen? Welche Rolle könnten und sollten Unternehmen bei einer solchen Bildungsrenaissance wahrnehmen?

Herr Professor Oltmanns, ich danke Ihnen vielmals für dieses virtuelle Gespräch!

12.07.2013 18:51:33

Meine Antwort in der Kurzversion lautet: Ja. Die Langversion liest sich so: Während wir die schlimmsten Auswirkungen der Wirtschafts- und Finanzkrise zu überwinden scheinen stellt sich heraus, dass die Welt nicht wieder zum alten Normalzustand zurückkehrt. Die neue Normalität zeichnet sich aus durch Volatilität, Ungewissheit, Komplexität (im Sinne undurchsichtiger Ursache-Wirkungsbeziehungen) und Instabilität und wird uns lange beschäftigen. In dieser neuen Welt trügen viele Erwartungen und es versagen viele der bislang effektiven Erklärungen und Instrumente (Wachstumsprognosen, Strategie- und Planungsprozesse), Sicherheit laesst sich deshalb weniger über verlässliche Rahmenbedingungen finden, die Menschen müssen sie idealerweise stärker aus sich selbst heraus holen. Das ist übrigens auch eine Ähnlichkeit zu der Zeit von Humboldt’s. Ein Bildungssystem im Humbodlt’schen Sinne, dass die Entwicklung der Persönlichkeit stärkt, auf die Auseinandersetzung mit Konzepten abstellt, nicht auf Fallloesungen und die Reflexion anregt, scheint eher geeignet, diese Voraussetzungen zu schaffen.

13.07.2013 16:26:16

Herzlichen Dank Herr Professor Oltmanns.

Danke auch an Managerfragen.

Adressat/in der Frage

Torsten Oltmanns

Roland Berger Strategy Consultants Holding

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